Prospektive Planung und rechnerunterstützte ergonomische Auslegung eines Baumaschinenfahrerplatzes

Aus Ergotyping
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ZIELSTELLUNG:


Festlegung der Verstellbereiche eines Sitzes und Zuordnung von hand- und fußbetätigten Bedienelementen für eine Zielpopulation am Beispiel eines Baumaschinen-Fahrersitzplatzes

Lösung der Aufgaben mithilfe des Menschmodells CharAT Ergonomics


Definitionsphase.gif


I. DEFINITION DER KÜNFTIGEN NUTZERGRUPPE:


  • Bedienungspersonal: männliche deutsche Maschinenführer
  • Altergruppe: 25 Jahre bis 65 Jahre
  • Bezugsjahr: 1 Jahr nach Serienanlauf: beispielhaft hier: 2015
  • keine Bewegungseinschränkungen
  • Berücksichtigung unterschiedlicher Körperproportionen
  • Berücksichtigung unterschiedlicher Körperbautypen

II. FESTSCHREIBUNG VON ERGONOMIEZIELEN:


  • Gewährleistung einer sicheren, ermüdungsarmen und bequemen Betätigung von Stellteilen für alle Nutzer der Nutzerpopulation
  • Betätigung der Stellteile von der Sitzposition aus
  • ständiger Bodenkontakt der Füße
  • ausreichende Verstellbarkeiten von Sitz und Stellteilen
  • Zuordnung wichtiger, permanent zu betätigender Stellteile zum Sitz

Ziel ist es, sämtliche durch den Nutzer kontaktierte Ausrüstungselemente mit Verstellmöglichkeiten zu versehen. Möglichst alle Nutzer der Nutzergruppe sollen in eine gleiche Komforthaltung in Bezug zum Interieur gebracht werden. Das heißt, dass das Interieur in seiner Position an diese Komforthaltung angepasst werden muss.


III. ABLEITUNG ERGONOMISCHER ANFORDERUNGEN:


  • Realisierung einer komfortablen, wechselnden Sitzhaltung: Körperhaltung in Komfortgelenkwinkelbereichen
  • Wechsel zwischen aufrechter und hinterer Sitzposition
  • häufig bzw. sicherheitsrelevante Handstellteile im Bequemlichkeitsbereich (bequeme Erreichbarkeit ohne Körperanpassung)
  • selten, nicht sicherheitsrelevante Handstellteile im Reichweitenbereich (Maschinenführer muss sich u. U. drehen, leicht beugen, vorbeugen)
  • Fußstellteile sind mit Bodenkontakt der Füße und unter Beibehaltung der Komfortkörperhaltung bedienbar
  • ermüdungsfreie Fußhaltung
  • kein versehentliches Verstellen, Auslösen der Stellfunktion
  • bequemer Zugang zum Sitz


Konzeptionsphase.gif


I. FUNKTIONSZUWEISUNG


Bedienelemente in Erdbaumaschinen abhängig vom Einsatzzweck:

Baumaschinenklassifikation in Abhängigkeit von Einsatzzweck: (Beispiele)

- Standbagger (z. B. Hydraulik-, Seil-, Mini-, Kompaktbagger)

- Fahrbagger (z. B. Rad-, Bagger-, Kompaktlader)

- Flachbagger (z. B. Planierraupen, Grader, Schürfzug)


Allgemein übliche Funktionen in Baumaschinen sind:

Fußstellteile: 2-6 Fußstellteile (Fußschalter, Pedale, als Druck-, Wipppedale) möglich

z. B. sicherheitsrelevante Funktionen, typische Belegungen in Mobilbaggern:

Linker Fuß:

  • Pedal links: Knickarm heben
  • Pedal Mitte: Knickarm senken
  • Pedal rechts: Schwenkbremse betätigen

Rechter Fuß:

  • Pedal ganz rechts: Fahrgeschwindigkeit regeln
  • Pedal Mitte: Betriebsbremse (kombiniert mit Pendelachsblockierung)
  • Pedal (Schalter) links: Umschaltung der Funktion des rechten Multifunktionsstellteils von Ausleger heben/senken auf Planierschild heben/senken

Handstellteile:

  • i. allg. 2 Joysticks (Multifunktionsstellteile)
  • je Körperseite des Maschinenführers ein Joystick in fester Zuordnung zum Sitz, d. h. Anordnung des Joysticks in einem Funktionsblock
  • wichtige Grundfunktionen (Steuerung über die Richtung die Stellteils) und typische Belegung (sog. Europa-Steuerung), s. Bild:

Joysticks Bagger.gif

Bildquelle: Zieschang; H. Müller-Gethmann; M. Schmauder; D. Reinert; W. Schmidt: Anforderungen an Multifunktionsstellteile. Tiefbau Heft 3 - 114. Jahrgang 3/2002

  • Zusatzfunktionen: Betätigung i. allg. über Taster, Schalter, Wipp-, Kippschalter, teilweise über zusätzliche Bedienkonsolen
teilweise über Touchscreens; Armaturenbrett, weitere ...
  • Lenkrad: in einigen Baumaschinen Lenkrad und Lenksäule, höhenverstellbar, schwenkbar
  • alternativ: Bedienungshebel zur Steuerung von Lenkung und Fahrbewegung
übliche Betätigung (Bagger): Beim Drücken beider Hebel bewegt sich der Bagger vorwärts, beim Zurückziehen rückwärts.
Steht ein Hebel in Neutralstellung und ein Hebel in Vorwärtsstellung, dreht sich der Bagger um die stehende Kette.
Wird ein Hebel vorgedrückt und der andere Hebel zurückgezogen, dreht sich der Bagger auf der Stelle.

Zusatzausstattungen: z. B. Getränkehalter, Ablageflächen etc.

Anzeigen: i. allg. Display (Informationen zum Maschinenstatus)



II. ERMITTLUNG ERGONOMISCHER ANFORDERUNGEN EINSCHL: NORMATIVER DATEN


  • Anpassung der Sitzhöhe an 5.Perzentil Mann Sitzriese bis 95.Perzentil Sitzzwerg
  • Sitzlängsverstellung vorsehen:
    • für einen bequemen Zugang zum Sitz
    • für eine bequeme Erreichbarkeit des Lenkrades
Sitzverstellung bezogen auf Sitzindexpunkt des durchschnittlichen Maschinenführers normaler Proportionalität, Sitz in Mittelstellung bei bequemer Erreichbarkeit von Lenkrad und Fußstellteilen
  • Komfort-Körperhaltung: bestimmende Größen:
    • Hüftgelenk-, Rumpf-, Kniegelenk-, Fußgelenk-, Ellenbogengelenkwinkel, Oberarmabspreizung zum Körper, Oberarmwinkel zum Rumpf

Bewwinkel Erdbaumasch.gif

Quelle: DIN EN ISO 6682:2009-06 Erdbaumaschinen - Stellteile - Bequemlichkeitsbereiche und Reichweitenbereiche. Deutsche Fassung EN ISO 6682:2008

Komfortwinkel: s. auch DIN 33408-01 Beibl. 1:1987-01

Sitzhaltung von Fahrern von Nutzfahrzeugen, empfohlene Körperwinkel: Nutzfahrzeug Komfortwinkel DIN 33408.gif

  • Erreichbarkeit der Joysticks mit Handumfassung
  • Längsverstellung der Joysticks für 5.Perzentil Mann, kurze Arme bis 95.Perzentil Mann, lange Arme
  • Joysticks in einem fest zum Sitz zugehörigen Funktionsblock, der an die Sitzverstellung gekoppelt ist
  • Erreichbarkeit von Fußstellteilen: bei Wipppedalen und Drucktastern Bedienung mit Fußballen und aufgesetzter Ferse
  • geometrischer Referenzpunkt: Sitzindexpunkt SIP
    • Ableitung aller Verstellmöglichkeiten des Interieurs mithilfe des Menschmodells CharAT Ergonomics
    • Der SIP entspricht etwa dem Hüftpunkt am Menschmodell, daher werden H-Punkt und SIP gleichgesetzt

Restriktion: Beim SIP und H-Punkt handelt es sich um geometrische Referenzpunkte.

Bestimmung der Koordinaten des SIP in Bezug zum Sitz:

a) aus technischen Datenblättern

Der über eine Sitzmessmaschine ermittelte und in Datenblättern zum Sitz veröffentlichte und eingezeichnete SIP repräsentiert den Schnittpunkt zwischen den theoretischen Achsen des menschlichen Oberkörpers und des menschlichen Oberschenkels auf der senkrechten Ebene durch die Sitzmittellinie. Demnach wird der Hüftpunkt(H-Punkt) des Menschmodells mit dem SIP in Übereinstimmung gebracht und simuliert die Lage des Beckens im gewichtsbelasteten Sitz.

Der SIP nach Norm DIN EN ISO 5353:1999-03 repräsentiert seine Lage für einen Maschinenführer, der den Sitz mit einem Gewicht von 75 kg belastet und entspricht demnach etwa einem 50.Körperhöhenperzentil (s. DIN EN ISO 3411:2007-11).

Anzunehmen ist, dass der SIP eine andere Lage für kleine und große Maschinenführer besitzt. Demnach erscheint es nicht sinnvoll, unterschiedliche, die Variabilität der Nutzergruppe widerspiegelnde Menschmodelle, im gleichen durchschnittlichen SIP zu platzieren. Da mit dem Menschmodell das Einsinken auf einem Sitz in Abhängigkeit von Sitzpolstereigenschaften und der Kompressibilität der Oberschenkel etc. momentan noch nicht simuliert werden kann, muss zumindest für den verwendeten geometrischen SIP ein hinreichend genaues SIP-Verstellfeld gefunden werden.

Hier können perzentilierte Daten zum SIP aus DIN EN ISO 3411:2007-11 weiterhelfen.

In der Norm sind perzentilabhängig horizontale und vertikale Abstände des SIP zu Bezugsebenen angegeben, die mit der SIP-Sitzmessmaschine vergleichbar sind.

Perzentilierter SIP.gif SIP DIN EN ISO 3411.gif

Der in Datenblättern zu Nutzfahrzeugsitzen veröffentlichte SIP entspricht - wie oben erläutert - etwa dem 50.Körperhöhenperzentil.

MarkerSIP.gif

Demnach kann der Abstand des SIP/Perzentil_5 und SIP/Perzentil_95 zum SIP/Perzentil_50 aus den obigen Daten der DIN EN ISO 3411:2007-11 ermittelt und in ein entsprechendes geometrisches Verstellfeld umgesetzt werden. Ein 5.Perzentil wird dann auf den korrigierten SIP im SIP/P5 platziert usw.

SIP P50 im SIPMarker.gif SIP perzentiliert.gif

Zu beachten ist hierbei: die Daten der DIN EN ISO 3411:2007-11 repräsentieren Maschinenführer der Weltbevölkerung. Die Maße wurden aus Daten von Männern und Frauen der USA, Europa und von Asien hergeleitet.

b) über eine Hilfskonstruktion

Ist der SIP für einen Sitz nicht bekannt, kann er für einen vereinfachten Sitz näherungsweise zum Schnittpunkt Lehnenfläche – Sitzfläche (zum SRP) in Bezug gesetzt werden.

Die Lage des SIP(P50) zum SRP wird in Normen geregelt. Nach DIN EN ISO 5353:1999-03 liegt er 97 mm über und 130 mm vor dem SRP.

Über eine Hilfskonstruktion, die dann auf dem Sitz positioniert wird, kann die Lage des SIP(P50-Referenz SRP) ermittelt werden. Abstand SIP SRP.gif Hilfskonstrukt SIP.gif Hilfskonstrukt SIP am provisorSitz.gif

Dazu wird die Hilfskonstruktion zum SIP(P50-Referenz SRP) mit seinen Stützflächen so auf den Oberflächen von Sitz- und senkrechter Lehnenpolsterung aufgesetzt, dass ein bestmöglicher Kontakt hergestellt ist.

Beim Einfügen eines Menschmodells ist sein H-Punkt mit dem SIP(P50-Referenz SRP) in Übereinstimmung zu bringen. Perzentilabhängige von diesem Einfügepunkt abweichende H-Punktlagen werden bei dieser geometrischen Lösung nicht beachtet. Es wird eine grobe Annäherung an die in a) erreichte geometrische Lösung für ein P50 gewährleistet.

  • Mindestfreiraum für Maschinenführer von Erdbaumaschinen: nach DIN EN ISO 3411:2007, bezogen auf SIP des großen Maschinenführers:
    • SIP-Höhe des großen Maschinenführers:
Höhe Sitzoberfläche horizontal (mit Schuhen) über Boden: 495 mm + Höhe SIP über Sitzfläche: 97 mm
SIP-Höhe über Boden (z-Wert) = 592 mm SIP Hoehe DIN EN ISO 3411.gif

Mindfreiraum Maschfuehrer.gif

Mindfreiraum Maschfuehrer Daten.gif

Bildquelle: nach DIN EN ISO 3411:2007 Erdbaumaschinen - Körpermaße von Maschinenführern und Mindestfreiraum

  • Anpassung Freiraumhöhe für folgende Situation möglich:
    • 40 mm Reduzierung Freiraumhöhe bei Sitzen ohne senkrechte Sitzhöhenverstellung;
    • Verstellung des Winkels der Fahrersitz-Rückenlehne größer als 15°
    • Verringerung der Mindestbreite auf 620 mm zulässig für bestimmte Maschinenarten (z. B. bei Kompaktmaschinen)
    • Verringerung des Mindestfreiraums zur Rückseite der Eingrenzung (R3) bei normal nach vorn geneigter Sitzhaltung (Betätigung Lenkung) oder bei Sicht in Rückraum der Maschine:
Mindestens b + 250 mm, wobei b die Hälfte der Längsverstellung des Sitzes ist.
  • Mindestabmessungen Sitz und Sitzverstellbarkeiten:
a) nach DIN EN 474-1:2010 bei Kompaktmaschinen:
35 mm Sitzlängsverstellung bzw. ausreichende Verstellbarkeit häufig verwendeter Stellteile
Sitzhöhenverstellung nicht erforderlich
b) nach ISO 11112:1995:
100 mm (bzw. 150 mm empfehelenswert) Sitzlängsverstellung bzw. ausreichende Verstellbarkeit häufig verwendeter Stellteile
Sitzhöhenverstellung nicht erforderlich (bzw. 75 mm empfehlenswert)
Sitzpolsterabmaße LxB 215 mmx 430 mm (265 mm x 500 mm empfehlenswert)
Armlehnen: Mindestlänge: 90 mm (140 mm empfehlenswert); Mindestabstand zwischen Armlehnen: 450 mm; eine Lehne wegklappbar wegen Kabinenausstieg
c) nach DIN EN ISO 6682:2009:
Sitzlehnenneigung: Empfehlung: 10°
  • Pedale: wenn Funktionsbelegung wie im Kraftfahrzeug, dann ähnliche Anordnung, um Gefahr der Verwechslung zu vermeiden
    • Abstände zwischen Pedalen: nach DIN EN 894-4:2010: zwei Füße: Mindestmaß 50 mm, empfohlenes Maß: 100 mm
  • Stellteilbereiche für Fuß- und Handstellteile nach DIN EN ISO 6682:1995:
Unterscheidung in
a) Bequemlichkeitsbereich (Stellteile 1.Ordnung)
b) Reichweitenbereich (Stellteile 2.Ordnung)
Bereiche bezogen auf SIP des großen Maschinenführers in hinterster Sitzposition:

Stellteilbereiche Erdbaumasch.gif Bildquelle: DIN EN ISO 6682:2009-06 Erdbaumaschinen - Stellteile - Bequemlichkeitsbereiche und Reichweitenbereiche. Beuth-Verlag

..hier geht es bald weiter...


Quellenverzeichnis:

H. Zieschang; H. Müller-Gethmann; M. Schmauder; D. Reinert; W. Schmidt: Anforderungen an Multifunktionsstellteile. Tiefbau Heft 3 - 114. Jahrgang 3/2002

DIN EN ISO 6682:2009-06 Erdbaumaschinen - Stellteile - Bequemlichkeitsbereiche und Reichweitenbereiche. Deutsche Fassung EN ISO 6682:2008, Beuth-Verlag

DIN 33408, Beiblatt 1:1987-01: Körperumrißschablonen für Sitzplätze; Anwendungsbeispiele, Beuth-Verlag

DIN EN ISO 5353-1999-03: Erdbaumaschinen sowie Traktoren und Maschinen für Land- und Forstwirtschaft - Sitzindexpunkt (ISO 5353:1995); Deutsche Fassung EN ISO 5353:1998, Beuth-Verlag

DIN EN ISO 3411:2007-11:Erdbaumaschinen - Körpermaße von Maschinenführern und Mindestfreiraum (ISO 3411:2007); Deutsche Fassung EN ISO 3411:2007, Beuth-Verlag

Zieschang, H.; Müller-Gethmann, M.: Ergonomische Anforderungen an Multifunktionsstellteile bei Erdbaumaschinen. BGAG-Report 2/2004. Hrsg.: HVBG - BGAG Sankt Augustin

DIN EN 474-1:2010-02: Erdbaumaschinen - Sicherheit - Teil 1: Allgemeine Anforderungen, Beuth-Verlag

ISO 11112:1995-12: Erdbaumaschinen - Sicherheit - Teil 1: Allgemeine Anforderungen

DIN EN 894-4:2010-11: Sicherheit von Maschinen - Ergonomische Anforderungen an die Gestaltung von Anzeigen und Stellteilen - Teil 4: Lage und Anordnung von Anzeigen und Stellteilen, Beuth-Verlag